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Vorwürfe, man mache zu wenig, obwohl Gegenteil

Dies ist ein Beitrag zum Thema Vorwürfe, man mache zu wenig, obwohl Gegenteil im Unterforum Situation der Betreuer/innen , Teil der Offenes Forum gesetzliche Betreuung
Da fällt mir eine Episode aus jüngerer Zeit ein. Ich betreue eine Frau, die beim ersten Gutachten als grenzwertig minderbegabt, ...


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Alt 07.07.2010, 16:25   #11
Berufsbetreuerin / Rechtsanwältin
 
Benutzerbild von ronja
 
Registriert seit: 01.04.2009
Beiträge: 580
Standard

Da fällt mir eine Episode aus jüngerer Zeit ein. Ich betreue eine Frau, die beim ersten Gutachten als grenzwertig minderbegabt, beim nächsten als überdurchschnittlich intelligent eingestuft wurde - was sich im wesentlichen mit meinem Eindruck deckt. Sie ist einerseits erstaunlich gut informiert, macht sich eigene Gedanken und interessiert sich für vieles, tänzelt aber völlig wirklichkeitsfremd durchs Leben, ist seit über 15 Jahren trockene Alkoholikerin ohne Rückfall seitdem. Besonders lieb und wert sind ihr Fernseher und Sky wegen der Sportkanäle.

Einerseits ruft sie mich wegen jedem "Mist" an. Hat ihr Cousin sie angerufen und war unfreundlich, haben die Nachbarn schief geguckt, ist ein Brief in der Post, der ihr mißfällt, verschmiert Regen die Scheiben - stets werde ich angerufen und ausufernd auf dem Laufenden gehalten.

Vor ein paar Wochen rief sie mich an und meinte, sie wolle mir was ganz Schönes mitteilen. Sie habe sich nämlich auf Ratenzahlung einen neuen Fernseher gekauft. Da würde ich mich sicher doch auch freuen, meinte sie.

Nein, ich freute mich nicht. Seit drei Jahren durfte sie nicht mehr über ihr Konto verfügen, alle Kontokarten waren gesperrt (ich habe einen Einwilligungsvorbehalt), und die laufenden Einnahmen Geld reichen gerade so zum Leben. Es müssen sogar nach und nach die Reserven angegriffen werden, und zu der Zeit war es besonders schwierig, weil nach dem Tod des Ehemannes im Dezember 2009 die Rentenzahlung und Neuberechnung der Grundsicherung nicht nahtlos erfolgte.

Ich versuchte ihr zu erklären, dass man keine Ratenzahlungsverträge abschließen kann, wenn man weniger Geld einnimmt als man ausgibt.

"Ich kann eben nicht so gut rechnen wie Sie", antwortete sie und fing an zu weinen, weil ich "böse auf sie" bin.

Ich versuchte ihr die monatlichen Einnahmen und Aufgaben aufzuschreiben, damit sie versteht, dass auch keine 10 € für Ratenzahlungen übrig sind.

"Ich habe es doch so gut gemeint", schluchzte sie, "und mein Mann hat immer gesagt, wenn man nicht viel Geld habe, könne man die Dinge auf Raten kaufen."

Da der alte Fernseher abgeholt worden ist und der neue bereits am Platz steht, genehmige ich zähneknirschend den Kauf, nehme ihr nun aber die Bankkarte ab, deren Vorlage dem Verkäufer offenbar gereicht hat, um den Vertrag zu schließen, ohne die Gültigkeit zu überprüfen. Bei dem hat sie in den letzten Jahren vor der Betreuung auch schon öfter Receiver und ähnlichen Krempel gekauft, verrät sie mir - wenn auch nicht mit genau diesen Worten.

Bei den nächsten Besuchen kommt sie immer wieder darauf zurück, und mehr und mehr bin ich daran schuld, dass es so gelaufen ist, wie es ist. "Der andere Fernseher war kaputt. Das müssen Sie doch gesehen haben", meint sie nun, "warum haben Sie mich denn nicht mal gefragt, ob ich einen neuen brauche, dann hätten wir das ja besprechen können?" "Was war denn da kaputt", frage ich, denn dem ständig laufenden Fenseher habe ich bei meinen Besuchen keine Beachtung geschenkt. Das Bild sei auf einer Seite ganz verschwommen gewesen, verrät sie mir.

Hätte ich das gemerkt, und wäre ich aufgrund dessen zum Ergebnis gekommen, dass sie einen neuen Fernseher braucht, hätte dann, wie es meine Pflicht als fürsorgliche Betreuerin ist, den Ankauf eines neuen Geräts ermöglicht und ihr liefern lassen, dann hätte sie keinen Alleingang unternehmen müssen. Nur weil ich meine Pflichten verletzt habe, musste sie zur Selbsthilfe greifen.

"Es ist nicht meine Aufgabe, durch Ihre Wohnung zu gehen und festzustellen, was Sie noch brauchen könnten", sage ich zu ihr.
"Nein?", fragt sie ungläubig zurück, und einen Augenblick überlege ich tatsächlich, ob die Gegenfrage ernst gemeint ist oder sie sich gerade ein wenig über mich lustig macht.

Wie gut, dass man einen Betreuer hat, der grundsätzlich, immer und überall an allem Schuld ist.
__________________

Die gefährlichsten Unwahrheiten sind die Wahrheiten, mäßig entstellt.
(Georg Christoph Lichtenberg)


ronja ist offline  
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Alt 08.07.2010, 01:10   #12
"Nervensäge" vom Dienst
 
Benutzerbild von MurphysLaw
 
Registriert seit: 08.12.2008
Ort: Berlin
Beiträge: 755
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Hallo Chesterfield,

wenn du mich länger lesen würdest, solltest du eigentlich merken, dass ich doch "pro-Betreuer" bin. Ich selbst habe durch meine Betreuerin derart positive Erfahrungen gemacht, dass ich Menschen mit Angst davor versuche, ihnen diese zu nehmen. (Davon ausgehend, dass die meisten Betreuer ähnlich wie meine drauf sind).

Sie erzählt mir auch oft von solchen Erlebnissen, wie du sie aufgeführt hast. Das sind dann solche "Schmunzelerlebnisse", weil sie mir klar machen, mir welche kleinen wie grossen Problemen ihr immer wieder konfrontiert werdet. (Das von Silencer z.B. wäre ein sehr grosses).
Durch verschiedene Zusammenhänge habe ich auch andere Betreute meiner Betreuerin kennen gelernt. Die würde ich von "grenzdebil" bis hin zu "Schwerst krank" einordnen. Dabei stellen die "ganz einfach gestrickten" die grösste Herausforderung für mich dar. Als Betreuerin würde ich über kurz oder lang nimmer die Geduld aufbrngen und anfangen, diese zu schütteln, in der Hoffnung, dass dann bisschen Intelligenz hervortritt ;-) (Okay, dass trifft auch auf einige 20jährige zu, die zwischen weltfremd und schmarotzer durchs Leben laufen).

Ich empfinde ehrliche Bewunderung für euch, dafür dass ihr euch das tagtäglich antut und z.T. mit wieviel Leidenschaft, Engagement und Herzblut dabei auch noch!

Viele Grüsse,
MurphysLaw

P.S.: Danke auch an Ronia, so eine Betreute hat meine B auch, die ruft ständig an, wenn ich mit meiner B im Auto unterwegs bin ;-)
MurphysLaw ist offline  
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Alt 08.07.2010, 01:39   #13
Berufsbetreuer / Verfahrenspfleger
 
Registriert seit: 25.10.2009
Beiträge: 911
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Zitat:
Zitat von MurphysLaw Beitrag anzeigen
wenn du mich länger lesen würdest, solltest du eigentlich merken, dass ich doch "pro-Betreuer" bin.
Weiß ich doch.
War ja auch gar nicht böse gemeint - gerade weil Du meintest, dass Dich da die Perspektive der Betreuer interessiert, wollte ich Dir diese Perspektive nahe bringen.
Ich meine schon, dass Du da trotz positiver Haltung auch noch ein paar ... hm, sagen wir mal "Vorurteile" hast, die man halt so aufschnappt über "uns Betreuer".
Es gibt da sicherlich unendlich viele Arbeitsauffassungen und -weisen - aber ich glaube, die meisten Betreuer wollen einfach nur einen guten Job machen und das Ganze möglichst "in Ruhe"... nicht anders als Bäcker, Anwälte, Steuerfachangestellte, Ärzte oder Bundeswehrkraftfahrer.
__________________

Chesterfield ist offline  
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Alt 22.07.2010, 22:33   #14
Forums-Azubi
 
Registriert seit: 19.01.2010
Ort: Niedersachen
Beiträge: 42
Standard

Hi Leute,

ich wollte kurz berichten, dass ich für meinen Klient endlich den Unterbringungsbeschluss bekommen habe.
Er ist jetzt im psychiatrischen Krankenhaus zur Entgiftung und die Heimplatzaufnahme läuft. Hoffe, er kann dort bald aufgenommen werden.
Was er jetzt allerdings nicht weiß: Er hat bei der Anhörung gemeint, er gehe "freiwillig" für ein Jahr in das geschlossene Wohnheim. Parallel läuft nämlich die Überprüfung, ob er in den Maßregelvollzug soll. Sein Pflichtverteidiger meinte, da wäre Mindestmaß 2 Jahre und 4 Monate. Da hat er nun große Angst vor und meinte, dann geht er lieber für 1 Jahr nach dem Betreuungsrecht.
Der Arzt vom Maßregelvollzug hatte mir dann später gesagt, dass das egal sei, wenn er meint, er sei dort besser aufgehoben, dann lässt er den Beschluss aufheben und dann wird er verlegt. Also die Sache mit dem Maßregelvollzug hat sich doch noch nicht erledigt. Aber gut, warten wir es mal ab.
Zumindest hat sich jetzt endlich was getan und wir können wieder alle beruhigt schlafen und müssen uns keine Gedanken mehr machen, dass er stirbt.

Liebe Grüße,
Angela
silencer ist offline  
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Stichworte
alkoholismus, angehörige, betreueraufgaben, betreuerpflichten, polizei, unterbringung, unterbringungsbeschluss

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